Süddeutsche Großstädter auf Schlesienkunde – vor 90 Jahren!

Dorfforschung in Kesselsdorf. Nachlass Siegfried Zache

Vor 90 Jahren hat die Trägerorganisation Schlesische Jungmannschaft im Boberhaus Löwenberg/Schlesien (Lwówek Śląski) ein beispielhaftes Jugendleben gestaltet. So wurden Dorfwochen in verschiedenen niederschlesischen Ortschaften, etwa in Rogau-Rosenau (Rogów Sobócki) bei Zobten am Berge, Märzdorf (Marcinów) und Kesselsdorf ( Kotliska), beide damals zum Kreis Löwenberg gehörend, organisiert. Die jungen Teilnehmer aus süddeutschen Großstädten erforschten eifrig die Geschichte dieser und anderer Gemeinden.
Es ist bemerkenswert, mit wie viel Gründlichkeit und Weitsicht diese Aktionen von Heinz Beutler, erfahrener Lehrer am Boberhaus, geplant, finanziell kalkuliert, verwirklicht und nachbereitet wurden.

Bestandteil schlesischer Jugendarbeit vor neunzig Jahren



Werner Guder

Bekanntlich gestaltete die Trägerorganisation Schlesische Jungmannschaft im Boberhaus Löwenberg/Schlesien ein beispielhaftes Jugendleben. Zu den reichhaltigen Formen gehörten Dorfwochen in verschiedenen niederschlesischen Ortschaften, etwa in Rogau-Rosenau bei Zobten am Berge, Märzdorf und Kesselsdorf, beide damals zum Kreis Löwenberg gehörend. Die jungen Teilnehmer aus süddeutschen Großstädten erforschten eifrig die Geschichte dieser und anderer Gemeinden. Sie nahmen unter anderem die Zeit seit der Besiedelung Schlesiens im 13. und 14. Jahrhundert in ihren Blick, als viele Menschen aus Hessen, Niedersachsen Thüringen, Franken und Sachsen der Einladung des Slawenherzogs Heinrich I. („der Bärtige“) und seiner oberfränkischen Gattin, der späteren Heiligen Hedwig, folgten und in Schlesien hunderte Orte aus „wilder Wurzel“ gründeten. Erstmals wurde ein solcher Dorfwoche genannter Forschungskurs nach rumänischem Vorbild im Winter 1930/31 eingerichtet. Ihm und allen weiteren lagen zugrunde, das Erziehungswerk des Boberhauses mit dem pädagogischen Einschlag schlesischer Dorfforschung zu verknüpfen. Es ist bemerkenswert, mit wie viel Gründlichkeit und Weitsicht diese Aktionen von Heinz Beutler, erfahrener Lehrer am Boberhaus, geplant, finanziell kalkuliert, verwirklicht und nachbereitet wurden! Derartige, zehn Tage umfassende Dorfwochen fanden also auch im Waldhufendorf Kesselsdorf statt. Dies war bis 11. Februar 1945 das Heimatdorf meiner Vorfahren, in dem meine Wurzeln liegen, wenngleich ich dort schon nicht mehr geboren wurde. Hier wurden Dorfwochen wegen ihres regen Zuspruchs mehrfach organisiert. In jener Zeit lebten die eifrigen Jugendlichen - alle kannten ihre Aufgaben genau - in freundlichen „Gastfamilien“ vor Ort. Sie wohnten, arbeiteten und aßen gemeinsam mit ihnen. Wie ich erst nach ihrem Tode erfuhr, hatten auch meine Großeltern Richard und Klara Bunzel, damals Hausnummer 26, einem jungen Menschen aus Baden ihre Gastfreundschaft eingeräumt. Auf der Grundlage umfangreicher Vorkenntnisse und ausführlichen Literaturstudiums gelang es den jungen Forschern, mit gezielten Fragestellungen Stück für Stück die Entwicklung des Dorfes als soziale Einheit zu verstehen und daran Interesse zu finden, wozu auch Auskünfte amtlicher Stellen, so des Bürgermeisters, des Pfarrers, des Schulleiters oder des Katasteramtes, eingeholt wurden. Jene Einblicke mündeten in Aussagen über die Lebens- und Wirtschaftsbeziehungen im Dorf, zum sozialen Zusammenhalt der Bewohner, zur Eingliederung des Dorfes in die Heimatlandschaft, ebenso zur damaligen politischen Gesamtsituation in ihren Wirkungen auf das Dorfganze. Diese Darstellung über die Ergebnisse der Kesselsdorfer Dorfforschung ging ein in die viel beachtete „Bäuerliche Ausstellung des Reichsnährstandes 1934“ in Breslau - eine hohe Anerkennung! In Kesselsdorf selbst, im Saal des einstigen Gasthofes „Zur Linde“, Hausnummer 39, Inhaber mein Großonkel Paul Bunzel (umgangssprachlich „Biehm-Schänke“ genannt), stellten die erfolgreichen Dorfforscher mehrere Wochen heimatkundliche Exponate des bäuerlichen Alltags aus (Foto), was die Einwohner mit viel Aufmerksamkeit begleiteten – für die jungen Leute des Boberhauses angenehme Eindrücke, die sie wohl niemals vergaßen!
Zwei Anmerkungen: Ist es angebracht, heutige Bildungsarbeit in Deutschland und in Europa um Inhalte zu bereichern, die seinerzeit im Boberhaus Löwenberg dank seiner engagierten Mitarbeiter in Form verständnisvoller Begegnungen junger Menschen bestens funktionierten? Und: Es zeitgemäß, wenn wir im früheren Löwenberg in Schlesien, dem heutigen Lwowek Slaski, „Boberhaus II“ - das Original brannte im Februar 1945 total nieder – entstehen lassen wollen!
Lit.: Heinz Beutler, Die Dorfwochen der Schlesischen Jungmannschaft. Breslau 1933

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